Volkswirtschaftslehre - Dr. Jürgen Faik

Letzte Aktualisierung am 30.10.2019

Standpunkt

Einmal arm, immer arm?

zurück zur Übersicht30.10.2005

Der facettenreiche Begriff Armut spielt in entwickelten Industriestaaten insbesondere in seiner Ausformung als relative Einkommensarmut eine sozialpolitisch bedeutsame Rolle. Relative Armut wird dabei als Prozentsatz – z. B. als 50 % oder 60 % - des durchschnittlichen (normierten) Haushaltsnettoeinkommens definiert. Dies soll aber nicht heißen, dass alternative Armutsbetrachtungen – in Form der absoluten Armut, sozialer Deprivation oder auch in Form der mittels politischer Programme wie z. B. der Sozialhilfe nachgewiesenen (“bekämpften“) Armut – keine Berechtigung hätten. Sie können etwa dazu genutzt werden, um die auf Basis der Konzeption relativer Einkommensarmut gewonnenen Befunde abzustützen.

Die so genannte dynamische Armutsforschung hat – anhand von Längsschnittstudien – deutlich gemacht, dass es durchaus “Wege aus der Armut“ zu geben scheint, denn die nachgewiesenen Armutsperioden sind selten lang anhaltend, sondern eher temporärer Natur. Nur etwa 7 % der (relativ) Armen von 1998 waren in Deutschland auch noch im Jahre 2003 (relativ) einkommensarm. Aus der dynamischen Armutsforschung stammt für Deutschland die Regel von der 75:15:10-Gesellschaft. Sie besagt, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt einerseits etwa drei Viertel der Bevölkerung eher keinen Armutsrisiken ausgesetzt sind, dass aber andererseits ca. 15 % der Bevölkerung armutsgefährdet sind (bzw. z. T. transitorisch arm sind) und etwa ein Zehntel der Bevölkerung dauerhaft arm ist.

Nichtsdestotrotz sind selbst transitorische Armutsphasen durchaus prägend für die weitere Integration in die Gesellschaft. So finden sich ehemalige Arme nur sehr selten in den höchsten Sphären der Einkommenshierarchie wieder, sondern sind eher im Niedrigeinkommensbereich verortet. Außerdem ist transitorische Armut dann problematisch, wenn – wie das für Deutschland spätestens seit den 1980er Jahren der Fall ist – das Armutsphänomen vorrangig ein Infantilisierungsphänomen ist.

Gerade Vorschulkinder – also Kinder im Alter bis 6 Jahre – leben in Deutschland überproportional häufig in einkommensarmen Haushalten. Verwendet man die international nicht unübliche Armutsgrenze von 60 % des arithmetischen Mittels der bedarfsgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen, zeigt sich für diese Gruppe nach einem anfänglichen gruppenspezifischen Armutsanteil von etwas über einem Fünftel zu Beginn der 1970er Jahre ein nahezu kontinuierlicher Anstieg dieses Anteils bis auf aktuell ca. ein Drittel. Bei einer etwas strengeren Fassung des Armutsbegriffes – d. h. bei Annahme eines 50-Prozent-Anteils am Median der bedarfsgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen – stellt sich das korrespondierende Armutsniveau zwar nicht ganz so dramatisch dar. Es ergibt sich aber seit dem Beginn der 1970er Jahre bis heute auch hier ein nahezu kontinuierlicher Anstieg der gruppeninternen Armutsquote der unter 6-Jährigen, und zwar im Sinne einer Verdoppelung von ca. 5 % auf ca. 10 %.

Für alle Jugendlichen zusammengenommen, resultiert in Deutschland insbesondere seit den 1980er Jahren (bei einem 60-Prozent-Anteil am arithmetischen Mittel der bedarfsgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen) ein Anstieg der gruppeninternen Armutsquote von seinerzeit etwas mehr als 15 % auf aktuell gut 25 % (bzw. bei einem 50-Prozent-Anteil am Median der bedarfsgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen von fast 5 % auf etwa 10 %).

Ergänzend zeigt der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung für das Jahr 2003 in Deutschland einen Anstieg der Kinderanzahl im Sozialhilfebezug um 64.000 auf 1,08 Millionen Kinder. Die gruppeninterne Sozialhilfequote der Kinder liegt mit 7,2 % deutlich über der für die Gesamtbevölkerung (3,4 %), wobei mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder in Alleinerziehenden-Haushalten aufwächst.

Mit anderen Worten: Der Anteil der Armen in der Gruppe der Minderjährigen ist in Deutschland über die Zeit hinweg fast kontinuierlich gewachsen. Dies erscheint sozialpolitisch insofern bedenklich, als bei starker Infantilisierung der Armut die künftigen Erwerbschancen bzw. -karrieren der betroffenen Kinder maßgeblich in negativer Weise geprägt werden. Dies ist nicht verwunderlich, werden doch in der Jugend die Wurzeln für die spätere gesellschaftliche Stellung gelegt, und da ist es schwieriger Fuß zu fassen, wenn man in dieser prägenden Lebensphase von sozialer Teilhabe weit reichend ausgeschlossen wird. Es ist nämlich zu bedenken, dass mit einkommensbezogener Armut sozusagen indirekt zugleich weitere Dimensionen von Armut angesprochen sind. Zu nennen sind beispielhaft Unterversorgungen in zentralen weiteren Lebensbereichen wie Arbeit, Bildung/Ausbildung und Wohnen; hinzu kommen die psychosozialen Folgen von Kinderarmut.

Die PISA-Ergebnisse für Deutschland haben sehr eindrucksvoll belegt, dass Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten ein im Durchschnitt geringeres Bildungsniveau als Jugendliche aus einkommensstärkeren Haushalten aufweisen. Da das Bildungsniveau zentral für die Erwerbschancen in der bundesdeutschen Gesellschaft ist – beispielsweise ist die Arbeitslosenquote der gering qualifizierten Personen in Deutschland ungefähr doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote –, ergibt sich schnell ein Teufelskreis aus Armut in der Jugend, geringem Bildungsniveau, Arbeitslosigkeit in der Adoleszenzphase und anschließender erneuter Armut.

Es wäre ein Armutszeugnis für ein (im Durchschnitt) weiterhin reiches Land, wenn es ausgerechnet seine “Investitionen in die Zukunft“, d. h. hier seine Investitionen zu Gunsten der Kinder nicht ausreichend wahrnehmen würde. Derartige Investitionen erfordern aber eine spürbare staatliche Einflussnahme, denn der Markt ist per se sicherlich kein sozial ausgleichendes Medium.

Empirische Untersuchungen zum Geschehen im Niedrigeinkommensbereich der Bundesrepublik Deutschland legen denn auch schon seit längerer Zeit eine bessere Dotierung des in Deutschland praktizierten Familienleistungsausgleichs – gerade zu Gunsten von Alleinerziehenden-Haushalten – nahe. Wichtig im Zusammenhang mit solchen Konklusionen erscheint die Forderung nach einer möglichst großen Umverteilungseffizienz. Zu denken wäre – gerade vor dem Hintergrund enger finanzieller Spielräume des Staates – m. E. etwa daran, Kindergeld einkommensabhängig-degressiv auszuzahlen. Außerdem sollte überdacht werden, ob die Berücksichtigung von Kindern in der bundesdeutschen Einkommensteuer wegen der Progressionseffekte nicht eher als Abzug von der Steuerschuld im Vergleich zum bisherigen Abzug von der Bemessungsgrundlage erfolgen sollte.

Die praktizierte Sozialpolitik sollte aber nicht bei monetären Transfers stehen bleiben. Es erscheinen auch vermehrte staatliche Realtransfers wie z. B. ein verbessertes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen Ziel führend. Auch eine verstärkte Besteuerung von Erbschaften zur Herstellung einer erhöhten Startgleichheit der Gesellschaftsmitglieder könnte sinnvoll sein.

Es ist der Politik in Deutschland positiv anzurechnen, dass sie mit den Armuts- und Reichtumsberichten gerade das Thema der Kinderarmut in die öffentliche Diskussion eingebracht hat. Auch sind durchaus Maßnahmen zur Behebung bzw. Milderung der Kinderarmut ins Leben gerufen worden.

Im Einzelnen können – wie die rot-grüne Bundesregierung im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht ausführt – u. a. folgende Maßnahmen der vergangenen Bundesregierung genannt werden:

- Die Anhebung des Kindergeldes für das erste bzw. zweite Kind auf inzwischen 154 Euro (seit 1998),

- steuerliche Entlastungen der Familien um insgesamt 5,8 Mrd. Euro auf Basis zweier Gesetze zur Familienförderung,

- die steuerliche Berücksichtigung erwerbsbedingter Betreuungskosten (seit 2002), der zufolge Alleinerziehende – seit dem 1.1.2004 – einen steuerlichen Entlastungsbetrag von 1.308 Euro p. a. erhalten,

- ein monatlicher Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro für potenzielle Bezieher von Arbeitslosengeld II (seit 2005) sowie

- der Ausbau der Kinderbetreuung, wofür der Bund 1,5 Mrd. Euro p. a. für Kinderkrippen und rund 4 Mrd. Euro (bis 2007) für Ganztagsschulen zur Verfügung gestellt hat.


Es ist hier nicht der Ort, um diese Maßnahmen im Detail hinsichtlich ihrer quantitativen und qualitativen Dimension abschließend zu bewerten. Gleichwohl lässt das Ausmaß der nach wie vor vorhandenen Kinderarmut vermuten, dass weitere Schritte folgen müssen, will die bundesdeutsche Gesellschaft nicht Wachstumspotenzial in Form der Entfaltungsperspektiven nicht gerade kleiner Teile ihrer “heranwachsenden“ Generationen brach liegen lassen.

Der Verweis darauf, dass man mit dem Phänomen der Kinderarmut international nicht alleine dastehe und dass in anderen Staaten wie z. B. Großbritannien das korrespondierende Problem noch drängender erscheine und dort soziale Exklusion in Form von Ghettoisierung u. ä. viel sichtbarer sei, verfängt m. E. nicht. Ein sozialpolitisch-korporatistisches (“Bismarck´sches“) Gesellschaftsmodell wie das bundesdeutsche hat nämlich eine geringere konzeptionelle Nähe zu eher marktliberalen Systemen des Beveridge-Typs wie dem britischen als zu eher “sozialdemokratischen“ Modellen wie z. B. dem schwedischen. Insofern lohnt der “Blick über den Zaun“ nach Schweden: Dort ist zwar auch – gerade nach dem Um-/Rückbau des schwedischen Wohlfahrtsstaates – die Kinderarmut angewachsen; sie ist aber weiterhin ein deutlich weniger drängendes Problem als in Deutschland. Kinder in Schweden sind sogar (weiterhin) nur unterproportional von (relativer) Einkommensarmut betroffen. Warum sollte man also vom egalitären Schweden nicht auch in dieser Hinsicht lernen?

Jürgen Faik